Mehl Meißel - Von der Kunst der Selbstbeherrschung: Deutschlands erste Kleinhaussiedlung liegt im Fichtelgebirge. Hier können Sie entdecken, wie ein Paar auf nur 26 Quadratmetern lebt.
55 Quadratmeter Platz für zwei Personen: Für den Durchschnittsbürger klingt das nicht sehr groß, aber Stefanie Beck und Philipp Sanders fühlten sich in ihrer ersten gemeinsamen Studentenwohnung sehr verloren. „Eigentlich wollten wir eine 1-Zimmer-Wohnung, aber alle Vermieter in Augsburg sagten uns, dass das zu zweit nicht möglich sei“, erinnert sich Philipp. Also mussten er und seine Freundin in die 55-Quadratmeter-Wohnung ziehen, in der sie sich nie wohl fühlten.
„Dafür hatten wir kein Equipment, und durch den Steinboden waren die Räume ziemlich hallig“, sagt der 24-Jährige. Das junge Paar wollte daraufhin weitere Möbel kaufen, „aber zum Glück haben wir rechtzeitig gemerkt, dass wir kurz davor sind, in die Konsumfalle zu tappen.“
Die beiden Architekturstudenten zogen daraufhin einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben und zogen ins Fichtelgebirge, wo sie auf einem großen Grundstück oberhalb der kleinen Gemeinde Mehlmeisel Deutschlands erste Tiny House Siedlung gründeten. Seit gut einem Jahr leben Stefanie und Philipp in ihrem 26 Quadratmeter großen Haus, das sie selbst entworfen und gebaut haben.
Rund 25.000 Euro investierten sie in das Material für den acht mal drei Meter großen Kubus mit seiner Außenfassade aus unbehandeltem Lärchenholz und abgestuften Ebenen für mehr Innenraum. „Wenn man das so bauen würde, müsste man etwa dreimal so viel investieren“, sagt Philipp.
kleiner ökologischer Fußabdruck
Rolf Patrick Ullrich genießt das ruhige und entspannte Zusammenleben im „Tiny House Village“. Vor anderthalb Jahren zog der 51-Jährige mit seinem alten Bauwagen nach Mehlmeisel.© Andre Ammer
Inzwischen haben die beiden Gründer von „Tiny House Village“ mehrere Mini-Häuser gebaut, das neuste Gebäude der Siedlung entsteht im Rahmen einer Werkstatt. Für zehn Personen dauerte das sechs Tage, und mit etwas mehr Routine ginge es merklich schneller, wie die Initiatoren betonen. Fans der Tiny-House-Philosophie wollen nicht nur möglichst wenig ökologischen Fußabdruck hinterlassen, sondern auch nicht viel Zeit mit Bau und Pflege der eigenen vier Wände verbringen.
„Aufräumen dauert fünf Minuten und in einer Stunde ist alles sauber“, sagt Stefanie, als uns die beiden durch ihre kleine Behausung führen. In einem ausgeklügelten Puzzle wurden Esszimmer, Küche und Bad in einen Bereich zusammengepfercht, der in normalen Wohnungen nur ein Schlafzimmer ist. Das Wohnzimmer mit Sofa und Fernseher befindet sich auf einer erhöhten Ebene, unten kriecht man durch eine große Luke in das „Schlafzimmer“, das mit niedriger Decke und schmalem Seitenfenster an eine Schiffskabine erinnert.
„Wir müssen auf nichts verzichten“
Das junge Paar besteht darauf, dass sie in ihrem kleinen Reich auf nichts verzichten müssen. „Als Tiny-House-Bewohnerin muss man sich einfach im Vorfeld intensiv mit sich und seinen individuellen Bedürfnissen auseinandersetzen“, erklärt Stefanie. Manchen ist eine etwas größere Küche wichtig, andere bevorzugen vielleicht eine Badewanne gegenüber einer Dusche. Das Leben in einem solchen Miniaturhaus ist eine permanente Selbsteinschätzung: Was brauche ich wirklich und was glaube ich zu brauchen?
Rolf Patrick Ullrich, der drei Häuser entfernt wohnt, braucht Zeit für sich und seine vielen Interessen, wie das Schreiben von Fantasy-Romanen. Vor anderthalb Jahren zog sie mit ihrem Holzanhänger und ihrer Mischlingshündin Elli ins „Tiny House Village“ und fand hier auf 200 Quadratmetern ihr persönliches Glück. Der 51-jährige Mann mit grauem Vollbart arbeitete früher unter anderem als Tanzlehrer und als Sportstudiobetreiber. Darüber hinaus war er drei Jahre als Unternehmensberater für einen Freizeitdienstleister fast ununterbrochen unterwegs. „Irgendwann fragt man sich, warum man so viel wertvolles Leben in pulsierende Währung verwandeln muss“, sagt Ullrich.
Mit dieser Einstellung ist er nicht allein in der Siedlung, in der heute 30 Menschen in 20 Häusern leben. „Die Leute arbeiten hier durchschnittlich 20 Stunden pro Woche“, berichtet Philipp. Niemand möchte sich jahrzehntelang verschulden, um ein möglichst großes Haus zu kaufen, das er aufgrund der langen Arbeitszeiten eigentlich nur sehr wenig nutzt.
Drei Ferienwohnungen verfügbar
Die beiden Gründer von „Tiny House Village“ leben mittlerweile von der Anmietung von Wohngrundstücken auf ihrem Grundstück (1,95 Euro pro Monat pro Quadratmeter inkl. Müllentsorgung und WLAN, 1,50 Euro für Familien), sowie Werkstätten und der Anmietung von drei Wohnungen wo es geht Erleben Sie ein paar Tage das Leben im Miniaturformat.
Das Interesse an kleinen Häusern ist groß und die Auslastung der Ferienwohnungen liegt bei über 90 Prozent. Und viele wollen auch dauerhaft auf das 17.000 Quadratmeter große Areal ziehen, doch die Betreiber des „Tiny House Village“ haben bereits mehrere Bewerber abgelehnt. „Viele sehen den Alltag hier sehr optimistisch. Einige Stakeholder glaubten auch, Steffi und ich seien ihre Butler“, sagt Philipp. Und einige dachten, sie könnten hier ein Ferienhaus bauen. Doch das würde den Nachhaltigkeitsgedanken aus der Tiny-House-Philosophie ad absurdum führen.
Kleines Planhaus im Stadtteil Roth
Gemeinschaft wird großgeschrieben in der Kleinstadt, die im Gegensatz zu den USA, dem Heimatland der Bewegung, einzigartig in Europa bleibt. „Als wir diese Immobilie im Sommer 2017 gekauft haben, haben sechs von acht Banken unseren Kreditantrag sofort abgelehnt“, sagt Philipp. Mit der Idee eines Mini-Stadthauses konnte damals kaum ein Banker etwas anfangen. Glücklicherweise hatten die beiden Initiatoren in Mehlmeisels Bürgermeister Franz Tauber (Freie Wähler) einen Fürsprecher, der dem Projekt von Anfang an aufgeschlossen gegenüberstand.
Saal für Feste und Veranstaltungen
Die kleine Dorfgemeinschaft hat noch Großes vor: Ein Permakulturgarten soll entstehen, ein Waldkindergarten und ein Carsharing-Projekt sind angedacht, und aus dem ehemaligen Wohnhaus des ehemaligen Besitzers wird ein Gemeinschaftshaus. Neben Zimmern zum Übernachten für Familie und Freunde und einer Bibliothek, in der die Bücher der Bewohner gesammelt werden, die noch in unzähligen Kisten aufbewahrt werden, ist ein großer Raum für gemeinsame Veranstaltungen und Feiern geplant.
Laut Rolf Patrick Ullrich eine dringend notwendige Investition in die Zukunft. Im Sommer brennt jede Nacht irgendwo im Dorf ein Lagerfeuer, wo man sitzen und plaudern kann. Im Winter hingegen, wenn es im Fichtelgebirge meist bis März schneit, sieht man die Nachbarn manchmal tagelang nicht. Der 51-Jährige, der bereits ein Buch über seine Erfahrungen in „Tiny House Town“ („Why Tiny Houses Don’t Have a Basement“) geschrieben hat, hätte gerne eine kleine Privatbar vor Ort. Allerdings ist die Diskussion um das genaue Wo und Wie noch nicht beendet.
Bald Nachkommen in der Siedlung
Bald soll es auch Kinder in der Siedlung geben, denn drei Bewohnerinnen sind schwanger. Wenn diese Kinder zusätzlichen Platz brauchen, ist das laut Philipp kein Problem. „Dann fügt man dem bestehenden Haus ein zusätzliches Modul hinzu.“ Und wenn der Nachwuchs irgendwann „außer Haus“ ist, lässt sich dieses Modul abbauen oder verschieben. Das ist das Schöne an der Tiny-House-Philosophie: „Das Haus basiert auf deinem Leben und nicht auf dir, deinem Leben in deinem Haus.“
Am Samstag, 28. September, laden die Bewohner des „Tiny House Village“ zu ihrem Herbstfest ein, bei dem zwischen 11:00 und 17:00 Uhr auch einige Häuser besichtigt werden können. Weitere Informationen imwww.tinyhousevillage.de.